DIE FUSSBALLSCHUHE

Sein erstes Ligator schoss Helmut Haller mit seiner Sonntags-Fußbekleidung. Mutter Laura schimpfte ihren Sohn, als er mit schmutzigen und ramponierten Schuhen heimkam.

Kickstiefel, richtige Fußballschuhe, waren in meiner Kindheit purer Luxus und so selten wie frisch gemähte Bolzplätze. Wenn ich heute die Spiele im Stadion oder im Fernsehen sehe, die Regale in den Sportgeschäfte mit Dutzenden bunter Fußballschuhe der verschiedensten Marken, Materialien, Designs und Sohlen, kann ich es kaum glauben. So etwas Feines und Edles tragen zu können, haben wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorgestellt.

Von richtigen Fußballschuhen habe ich jede Nacht geträumt. Seit ich denken kann, habe ich einen Ball am Fuß. Jeden Tag von klein auf habe ich stundenlang gekickt, alleine gegen die Hauswand oder mit Freunden auf der Straße. Fast immer barfuß, denn mein einziges Paar Schuhe durfte ich auf keinen Fall ruinieren. Der Vater musste sie oft genug flicken und hätte mir schön was erzählt. So waren meine Füße immer wund, voller Schürfwunden oder Blutergüsse und vor allem sehr schmutzig.

Im Alter von neun Jahren bin ich mit Gleichaltrigen zum BC Augsburg gegangen und habe mich im Verein angemeldet. Ich war mächtig stolz, jetzt ein richtiger Fußballer zu sein, aber natürlich hatte ich kein Geld für Fußballschuhe. Doch barfuß konnte man im Verein auch nicht spielen. Da ich Angriff schon immer für die beste Verteidigung hielt, weder maulfaul noch schüchtern war, sagte ich zu meinem Trainer:

»Wenn ich keine Fußballschuhe krieg, muss ich aufhören!”«- obwohl dies das Schlimmste für mich gewesen wäre.

Dann hat mich der Vorstand vom Konkurrenzverein FC Augsburg angesprochen: »Komm zu uns, da kriegst du Fußballschuhe.« Ich bin rüber, habe mittrainiert und das erfuhren wiederum die Jugendleiter vom BC Augsburg. »Spinnst du, du kannst doch nicht zu denen gehen, du gehörst zum BC Augsburg! Und für die Schuhe musst halt jede Woche zwei Mark abbezahlen.« AIso bin ich wieder zurück und war wahrscheinlich der einzige Neunjährige, der innerhalb einer Woche zweimal den Verein gewechselt hat. Eine gewisse Transfererfahrung war mir nicht mehr abzusprechen.

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Bis die Fußballschuhe endlich da waren, dauerte es aber eine Weile und so spielte ich mein so heiß herbei gesehntes erstes Vereinsspiel dann doch in meinen Sonntagsschuhen. Verbotenermaßen zwar, aber was sollte schon passieren, außer das ich die Dinger hinterher würde sauber schrubben müssen.

Ich weiß nicht mehr warum, ich muss wohl eine günstige Gelegenheit erkannt haben, aber in diesem Spiel schieße ich plötzlich von der Mittellinie aufs Tor, der Ball hupft dann am verdutzten Torhüter vorbei so schief auf und springt ins Tor.

Voller Dropkick aus gut vierzig Metern, mein erstes Ligator!

Noch beim Jubeln spüre ich meinen nassen Fuß, den mit dem ich geschossen hatte. Es hatte mir die Schuhsohle weggehauen! Ich habe mich gar nicht mehr nach Hause getraut.

»Warum bist Du so spät? Wo kommst Du her?« fragte meine Mutter noch eher neugierig als erbost. Doch als sie mich in Sekundenbruchteilen komplett gemustert hatte, geriet die Frage zum Schrei: »Deine Schuhe? Warum kommst du barfuß?”« Es setzte eine schallende Ohrfeige, die aber weit weniger schmerzte als der damit verbundene Hausarrest und ihr Schwur ,»Schluss damit, Du gehst mir nie wieder Fußball spielen!« Viel schlimmer noch, zumindest für meine Eltern, war die Tatsache, dass ich nun überhaupt keine Schuhe mehr hatte. Vorsichtig brachte ich als Lösungsvorschlag das Angebot meines Jugendleiters ein, dass man ein paar Fußballschuhe in kleinen Raten abstottern könne. Zum Glück machten sie es dann so.

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Wahrscheinlich hatten sie im ersten Moment nicht daran gedacht, dass ich dann auch wieder Fußball spielen musste. Nach drei gezahlten Raten, und in dem sicheren Bewusstsein, dass sie auf mich nicht mehr verzichten wollten, ging ich dann zum Jugendleiter und erzählte ihm, dass ich leider kein Geld mehr hätte für die weitere Abzahlung. Und meine Rechnung ging auf. »Na gut, Helmut, den Rest übernimmt der Verein. Kommst aber immer schön ins Training, gell.« Nun tat sich aber ein anderes Problem auf. Zwar hatte ich jetzt wieder ein Paar Schuhe, aber eben nur diese Fußballschuhe. Die waren nun notgedrungen meine Sonntags- und Ausgehschuhe. So marschierte ich eine ganze Zeil lang mit Fußballstiefeln durch die Gegend.

Das machte mir gar nichts aus, da ich sowieso überall, wo ich ging und stand, nur Fußball spielte. Alleine in der Schule war das etwas ungewöhnlich, denn die Klassenzimmer waren mit Parkettboden ausgelegt, dessen größter natürlicher Feind in den Augen unseres Schulleiters meine Fußballstollen darstellten. Also musste ich meine Kickstiefel vor dem Klassenzimmer immer ausziehen und den Unterricht auf Socken genießen. Meine Vereinskameraden haben mich in den ersten Trainings und bei meinem ersten Spiel nie ausgelacht, weil ich als einziger mit Straßenschuhen kickte. Jetzt aber herrschte eine Zeit lang doch eine gewisse Belustigung, als ich als einziger mit Fußballschuhen in die Schule kam.

Text

Auszug aus dem Exposé »Haller – il biondo« von 2007. Eine Autobiografie sollte in Zusammenarbeit mit dem Sportjournalisten Frank Schlageter entstehen.

Bilder

Titelbild: Pareaz
(1): Familie Haller
(2), (3): Michael Straub
(4): Familie Haller