DER BUB AUS OBERHAUSEN
Helmut Haller wurde 1939 geboren. Er wuchs mit sechs Geschwistern hier im Stadtteil auf. Er beschreibt seine Kindheit und sein Familienleben.
Ich war das drittjüngste Kind von den neun, aber irgendwie war ich das Nesthäkchen, der Liebling meiner Mutter, und sie war mein ein und alles. Als kleines Kind hing ich nur an ihrem Rockzipfel, sie schmuste soviel mit mir, wie mit allen anderen nicht zusammen und später, und als ich beim BC Augsburg in der Schüler- und Jugendmannschaft Fußball gespielt habe, da ist sie bei jedem Spiel dabei gewesen und war mein erster und größter Fan. Sie hat zwar nie etwas in diese Richtung zu mir gesagt, aber sie gab mir immer das Gefühl, als ob sie wüsste, dass ich mal ein großer Fußballer sein werde. Manchmal geriet sie in Streit mit den anderen Zuschauern.
Einmal hat sie sogar mit dem Regenschirm zugeschlagen. »Das ist mein Sohn!«, hörte ich sie schreien.
Ich habe nach dem Tod meiner Mutter zwei Tage nur geweint, war nicht fähig irgend etwas anderes zu tun oder an irgend etwas anderes zu denken, im wahrsten Wortsinn war meine Welt eingestürzt. Meine Mutter wurde 1903 in Augsburg geboren, sie hat nur immer alles gegeben für ihre Kinder, für sich hat sie sich gar nichts gegönnt. Es war ein Donnerstag, an dem sie gestorben ist, am Samstag sollte ich wieder Fußball spielen.
Ich war aufgestellt mit der Jugend und habe meinen Vater gefragt: ,»was soll ich machen, wir haben ein wichtiges Spiel?« Mein Vater und meine Geschwister haben gesagt:
»Bub, spiel das Spiel, die Mama hätte das auch gewollt.«
Na ja, ich habe dann gespielt und habe sogar noch gut gespielt. Ich habe immer nach draußen gehört, auf ihre Stimme. Noch heute denke ich oft an meine Mutter und schäme mich auch nicht, wenn mir dabei manchmal die Tränen kommen. Nur ein paar Jahre nach ihrem Tod habe ich so viel Geld verdient und was hätte ich ihr nicht alles kaufen können, eine Waschmaschine, einen Pelzmantel, vor allem einen schönen Urlaub. Denn in den Urlaub gefahren ist meine Mutter nie, sie war immer nur zu Hause, war ja nur so viel da, dass es knapp fürs Nötigste reichte und kurz bevor sich alles auszahlt, muss sie dann sterben, jammerschade.
Mein Vater war ein richtiges Arbeitstier, kam im Jahre 1900 ebenfalls in Augsburg zur Welt, das er in den letzten Kriegstagen noch vom Kirchturm aus gegen die anrückenden Alliierten verteidigen musste. Mein Vater war sehr streng, arbeitete als Schaffner bei der Eisenbahn, fuhr aber nur regionale Strecken, vielleicht einhundertfünfzig Kilometer nach Nürnberg und wieder zurück, also kam er jeden Abend wieder heim. Da hat er nebenbei noch Schuhe repariert, meine Schuhe, die von meinem Bruder und welche aus der Nachbarschaft. In seiner Jugend hatte er Schuster gelernt. Vaters Hobby und sein ganzer Stolz war unser kleiner Schrebergarten. […]
Das Ziel der Eltern war einzig und allein, die Familie mit den vielen Kindern irgendwie durchzubringen. Später, als ich in Italien gespielt habe, waren alle stolz auf mich. Meinen Urlaub, drei Wochen im Sommer, hab ich dann immer zu Hause in Augsburg mit der Familie verbracht. Immer und jedes Jahr, weil ich wusste, die nächsten elf Monate würde ich wieder fort sein. Diese Treffen und der Kontakt zu meinen Geschwistern war mir immer sehr wichtig. Wir kommen heute noch ab und an zusammen, alle haben einen Schrebergarten, da treffen wir uns und reden auch viel über die alten Zeiten, zum Beispiel, dass ich immer die Kleidung von meinem älteren Bruder auftragen musste.
Und als ich heraus gewachsen war, wurde vieles für die Mädchen umgeschneidert. Das war immer noch einfacher und vor allem günstiger, als neue Sachen. Meine Geschwister sind über die Jahrzehnte alle in Augsburg geblieben, mit Ausnahme der zweitjüngsten Schwester, die ein Jahr nach mir geboren wurde und nun in Tampa wohnt. Sie hat vor mehr als vierzig Jahren einen Amerikaner kennen gelernt und geheiratet und lebt seitdem in Florida. Aber auch sie kommt auf Besuch oder wir fliegen mal nach Florida. Was wir früher in der Kinder- und Jugendzeit oftmals als ein wenig lästig und anstrengend empfanden, weiß ich heute sehr zu schätzen: eine große Familie, auf die man sich verlassen kann.
Giacomo Belardi, ein Jugendfreund und späterer Kollege von Haller, beschreibt, wie am Oberhauser Bahnhof gekickt wurde:
Text
Auszug aus dem Exposé »Haller – il biondo« von 2007. Eine Autobiografie sollte in Zusammenarbeit mit dem Sportjournalisten Frank Schlageter entstehen.
Bilder
Titelbild: Fred Schöllhorn
(1) Familie Haller