DIE KÖNIGIN UND DER BALL

Weltmeisterschaft 1966. Als der Sieg der Engländer feststand, schnappte sich Helmut Haller das Spielgerät und gab es nicht mehr her. Er beschreibt die Rückgabe des Balles an England 30 Jahre später.

Früh um sieben Uhr, ich will gleich meinen jüngsten Sohn Sascha in die Schule bringen, da schellt es an der Tür, sonst klingelt niemand so früh bei uns. Ich öffne, da stehen zwei düstere Figuren im Trenchcoat […] “Helmut Haller?” fragt der eine und fährt, ohne meine Antwort abzuwarten, beängstigend bestimmt fort:

»Sie gehen jetzt nirgends mehr hin, Sie stehen unter unserer Aufsicht!«

Ich hatte richtig Angst vor denen, […] und ich glaubte, ich würde jetzt auf der Stelle abgeführt, ohne dass mir einfiel, was ich verbrochen haben könnte. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, komplett von der Rolle, wie kamen die überhaupt ins Haus?

Der erste Schock fiel ab, als sie sich als Journalisten von der englischen Boulevardzeitung The Sun vorstellten. […] Ganz schön starker Tobak wegen eines Interviews, dachte ich und bestellte sie für die Mittagszeit zu meinem Stammitaliener in die Villa Destre.

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WM-Endspiel 1966 gegen die Engländer im legendären Londoner Wembley-Stadion, wir kassieren nach dem umstrittenen und weltberühmten Wembley-Tor zum zwei zu drei in der Verlängerung auch noch das zwei zu vier. Wir haben Anspiel, mittlerweile sind schon eine Menge verrückt jubelnder englischer Zuschauer auf dem Platz, und ich frage den Schweizer Schiedsrichter »Wie viel Zeit haben wir noch?« Er zeigt an, dass er gleich abpfeifen wird, ein paar Sekunden vielleicht noch, zu wenig jedenfalls, um noch zwei Tore aufzuholen, habe ich gedacht. Uwe Seeler spielt mich an und da ja nichts mehr zu machen war, halte ich eben den Ball so lang, bis der Abpfiff kommt.

»Ich wollte dieser Ball unbedingt mit nach Hause nehmen. Dieses Endspiel war der Höhepunkt meiner Karriere und wenn wir schon verlieren, wollte ich wenigstens den Fußball als Andenken mit nach Hause nehmen.«

1:0 Haller bei WM 1966 | Livereportage mit Herbert Zimmermann, produziert von Olivia Fritz, 20.07.2009 – 17:30:07

WM-Endspiel vom 30.07.1966, England – Deutschland: Queen Elisabeth gratuliert dem Vizeweltmeister. (3)

Und das sollte mir auch gelingen. Die Engländer haben nach dem Schlusspfiff ausgelassen gefeiert, trugen ihren Trainer auf den Schultern über den nun heiligen Rasen von Wembley, tausende von Zuschauern sind im Stadion rumgelaufen und niemand hat sich für den Ball interessiert. Damals gab es ja nur einen Spielball, das war ein roter Lederball, das Feinste vom Feinen und ich stopfte die Kugel sofort unter mein Trikot. So stapfte ich dann auch mit den anderen Teamkollegen die Tribüne hinauf zur Königin Elisabeth, die uns die königliche Hand entgegen streckt und uns die Silbermedaille überreicht. Die Fotografenobjektive waren zum Großteil natürlich auf die ausgelassen feiernden Engländer gerichtet, aber ein paar lichteten auch mich ab, an der einen Hand die Queen, unterm anderen Arm den Endspielball. Ich musste ihn heil in die Kabine bringen, wo ich das wertvolle Kleinod sofort in meiner Sporttasche vergrub.

Am liebsten hätte ich ihn noch mit unter die Dusche genommen, damit er ja nicht weg kommt. Am Abend fand ein Bankett statt für die besten vier Mannschaften, das waren Portugal, Russland, England und wir. Da sammelte ich auf diesem Ball noch ein paar wertvolle Autogramme – Jaschin, Eusebio, Charlton und verschiedene damals große Spieler hab ich unterschreiben lassen. Aber ich musste aufpassen, den Ball wollten an dem Abend viele haben. Ich habe ihn sofort wieder verstaut und sicher versteckt. Ich bringe den Ball also unversehrt nach Hause, die Weltmeisterschaft ging zwar verloren, aber immerhin sind wir Vizeweltmeister, ich gewann die Torjägerkrone und habe den Endspielball! Wieder in Italien, damals spielte ich bereits für Bologna, deponiere ich den Ball natürlich gut sichtbar auf einem Spezialplatz im Wohnzimmer. Ein paar Jahre und Umzüge später liegt er nur noch im Keller und ich habe ihn fast vergessen.

Ich fahre also Sascha zur Schule und mache noch einige Erledigungen. […] Als ich gegen Mittag, mit meinen beiden Leibwächtern im Gefolge, bei meinem Freund Renato in der Villa Destre ankomme, warten dort noch zwei Herren, ähnlich anmutend wie meine neuen Freunde. Sie sind vom Daily Mirror und haben ebenfalls den langen Weg von London nach Augsburg auf sich genommen. Aber warum so ernst und angestrengt?
Es war das Frühjahr 1996, in diesem Sommer sollte die Europameisterschaft statt finden und England hatte seit dem WM-Titel 1966, also seit dreißig Jahren international nichts mehr gewonnen.

Es musste also ein Glücksbringer her, ein Relikt am besten von der siegreichen Weltmeisterschaft. Da hatten die Journalisten in ihren Archiven gestöbert und ein altes Foto rausgefischt, auf dem die Queen, ich und der Endspielball zu sehen waren. Der Mirror und die Sun griffen das Thema als erste auf, erklärten das zur Sache eines ganzes Volkes, behaupteten, dieser Ball gehöre England und ich sei ein Dieb, vergleichbar in seiner Unverfrorenheit und Kaltblütigkeit nur mit den legendären englischen Posträubern. […] Der Spitzbub, der ich war und immer noch bin, bekommt langsam Geschmack an der Geschichte.

Spätestens als sie merken, dass sie mir kein schlechtes Gewissen einreden können und anfangen, mir Geld zu bieten – wobei sich Sun und Mirror gegenseitig immer mehr bekämpften und überboten – schwindet meine Furcht vor den Genossen. Ich merke, dass eigentlich ich hier die Regeln und den Ausgang dieses Spiels bestimme.

Dabei geht es mir wirklich nicht ums Geld, aber je drängender und verbissener die Kollegen einander das Objekt der Begierde zu entreißen versuchen, desto größer werden meine Belustigung und meine Neugier, die Grenzen auszutesten. Natürlich geht es hier keinem meiner Gesprächspartner um die englischen Fußballfans, schon gar nicht um die Nation, jede Zeitung wittert hier für sich die Story des Jahres. Sie wollen das größte Erfolgssymbol des englischen Fußballs einfach nur für sich vermarkten. Den Ball hatte ich irgendwann einmal meinem Sohn Jürgen geschenkt, der auf meine telefonische Anfrage auch nichts weiß.

Ich war von meiner ersten Frau, Jürgens Mutter, schon lange geschieden und ich wusste nur, dass der Ball irgendwo sein musste. Ich sage also zu meinem Sohn, »Jürgen, schau doch mal, die Engländer wollen den Ball zurück, sie bezahlen sogar sehr viel Geld dafür. Willst du ihn überhaupt hergeben?« Mein Jürgen hat selbst als Profi bei Blau-Weiß 90 Berlin und in Augsburg gespielt. »Ich schau mal bei mir und bei der Mama im Keller nach.« Wenig später ruft er mich zurück. »Papa, wir haben den Ball gefunden!« Nach 30 Jahren war der in einer Kiste drin, in der unsere ganzen Sachen aus Italien aufbewahrt waren.

Mit Geoffrey Hurst – Weltmeister 1966 (4)
In der Mitte Richard Branson (5)

Haller behielt also den Ball, bis kurz vor der Europameisterschaft 1996 in England ein Wettbieten um die »gestohlene Trophäe« begann. Der englische Milliardär Richard Branson machte letztlich das Rennen. Sogar die Deutsche Botschaft in London war in das Geschehen involviert, um außenpolitische Turbulenzen zu verhindern. Haller wurde von der englischen Boulevardpresse heftig als Balldieb beschimpft. Zusammen mit Jürgen setzte er sich also in ein Flugzeug – neben ihnen der braune Lederball – und übergab das Spielgerät in einem symbolischen Akt an Geoffrey Hurst, den englischen Dreifach-Torschützen des WM-Endspiels von 1966. Heute ist der Ball als Kulturgut im National Football Museum in Manchester ausgestellt.

Text

Auszug aus dem Exposé »Haller – il biondo« von 2007. Eine Autobiografie sollte in Zusammenarbeit mit dem Sportjournalisten Frank Schlageter entstehen.

Bilder

Titelbild: Pareaz
(1), (2): Fred Schöllhorn
(3): Pressebilderdienst Horstmüller
(4), (5): The Mirror